Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,3

war, dass er geendet hatte, fragte ich: »So dass ihr jetzt also über talentlose Sängerinnen und ihre Rennpferde berichtet?«

Lassi betrachtete mich wieder von fern, aus irgendwelchen Gefilden, in die verständnislose Idioten wie ich keinen Zutritt hatten. »Wir versuchen zu überleben«, sagte er trocken.

Wir saßen eine Weile schweigend da.

Dann setzte Lassi an: »Darf ich mal etwas fragen?«

Ich nickte.

»Schreibst du immer noch diese Gedichte?«

Ich hatte richtig vermutet. Lassi konnte der Versuchung nicht widerstehen. Die Frage enthielt auch gleich den Keim für die nächste. Damit wollte er beweisen, dass ich auf der falschen Spur war, sowohl was Johanna betraf, als auch bei allen anderen Dingen. Egal. Ich beschloss, ihm die Gelegenheit zu geben, seine eingeschlagene Linie weiter zu verfolgen, und antwortete wahrheitsgemäß: »Ja, das tue ich.«

»Wann hast du zuletzt was veröffentlicht?«

Ich musste immer noch nicht über meine Antwort nachdenken. »Vor vier Jahren«, sagte ich.

Lassi fragte nicht weiter, er sah mich aus rot unterlaufenen Augen selbstzufrieden an, so als hätte er gerade die Richtigkeit seiner eigenen, umstrittenen These bewiesen. Ich wollte nicht weiter über das Thema reden, es war Zeitverschwendung.

»Wo sitzt Johanna?«, fragte ich.

»Warum?«

»Ich möchte mir ihren Arbeitsplatz ansehen.«

»Normalerweise würde ich das nicht erlauben«, sagte er und sah aus, als habe er im selben Moment auch den letzten Funken Interesse an der Sache verloren. Er blickte flüchtig an mir vorbei in das Großraumbüro, in das er durch eine Glaswand Sichtkontakt hatte. »Aber jetzt ist sowieso alles anders, und die Etage ist leer. Also okay.«

Ich stand auf und bedankte mich, aber Lassi hatte sich schon seinem Laptop zugewandt und tippte konzentriert darauf herum, dennoch wirkte er, als wäre er lieber woanders.

Johannas Arbeitsplatz auf der rechten Seite des großen Raumes war leicht zu finden. Mein eigenes Foto führte mich hin. Ich war plötzlich sehr berührt. Die Aufnahme war mehrere Jahre alt, und ich stellte mir vor, wie Johanna sie ansah. Nahm sie denselben Unterschied in meinen Augen wahr wie ich jetzt?

Der Arbeitsplatz war, trotz der hohen Papierstapel, aufgeräumt, der geschlossene Laptop lag mitten auf dem Tisch. Ich setzte mich und sah mich um. In dem Großraumbüro gab es mehrere Arbeitsplätze für jeweils vier Personen, die einander gegenüberstanden und deshalb Kleeblätter genannt wurden. Johannas Tisch stand an der Fensterseite eines Kleeblattes, und sie hatte von dort den direkten Blick in Lassis Büro. Oder eigentlich nur in den oberen Teil seines Raumes, darunter bedeckten Pappen die Glaswand. Der Ausblick aus dem Fenster war auch nicht viel besser. Das vielfach geflickte, gewölbte Dach des Kunstmuseums Kiasma sah im Regen aus wie das Wrack eines großen Schiffes: schwarz, zerfetzt, gekentert.

Die Tischplatte war kühl und wurde unter meiner Berührung rasch feucht. Ich sah zu Lassis Büro und drehte mich dann einmal kurz um. Der Raum war leer. Rasch schob ich Johannas Laptop in meine Tasche.

Auf der ganzen Schreibtischfläche klebten Unmengen von Notizzetteln, einige enthielten nur eine Telefonnummer oder Namen und Kontaktdaten, andere waren vollständig mit Johannas zierlicher Schrift gefüllt.

Ich sah die Zettel einzeln durch. Einer erregte meine Aufmerksamkeit:

H – West-Ost/Nord-Süd – vgl. Tapiola, Lauttasaari, Kamppi, Kulosaari oder Tuomarinkylä, Pakila, Kumpula, Kluuvi, Punavuori – Datumsangaben.

H bedeutete bestimmt Heiler. Ich steckte den Zettel ein.

Als Nächstes nahm ich mir die Papierstapel vor. Größtenteils handelte es sich um Material zu Storys, die Johanna bereits abgeschlossen hatte: die Berichte über Russlands angeblich abgeschaltete Kernkraftwerke, über das Schwinden der Steuereinnahmen des Staates und über den Qualitätsverfall bei Lebensmitteln.

Ein Stapel war ganz und gar dem Heiler gewidmet, ­darin entdeckte ich auch sämtliche E-Mails in ausgedruckter Form. Johanna hatte eigene Bemerkungen aufdie Blätter geschrieben, manchmal bedeckte ihre Schrift fast gänzlich den ursprünglichen Text. Ich stopfte den ganzen Stapel ungelesen in meine Tasche, stand auf und blickte auf den verwaisten Arbeitsplatz. Er wirkte wie ­jeder x-beliebige Büroschreibtisch, unpersönlich und kaum von anderen zu unterscheiden. Trotzdem hoffte ich, dass er mir etwas erzählte, mir verriet, was geschehen war. Ich wartete einen Moment, aber der Schreibtisch blieb stumm.

Vor vierundzwanzig Stunden hatte Johanna dort ge­sessen.

Und sie säße auch jetzt an diesem Platz, wenn nicht etwas passiert wäre.

Keine Ahnung, warum ich mir meiner Sache so sicher war. Genauso wenig konnte ich die besondere Art von Beziehung erklären, die zwischen Johanna und mir bestand. Ich wusste einfach, dass Johanna mich anrufen würde, wenn sie könnte.

Ich trat einen Schritt zurück, ohne sofort meinen Blick von Johannas Papieren, ihrer Handschrift, den kleinen Gegenständen auf dem Tisch abwenden zu können. Dann fiel mir etwas ein.

Ich ging zu Lassis Büro und trat in die offene Tür. Er bemerkte mich nicht, so dass ich an den Türrahmen klopfte. Es knallte unter meinen Knöcheln, ich war überrascht von dem lauten und