Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,1

lange zu tun«, begann sie.

»Wie lang ist lange?«

»Die ganze Nacht, wahrscheinlich.«

»Außen- oder Innendienst?«

»Ich bin bereits draußen unterwegs, habe einen Fotografen bei mir. Mach dir keine Sorgen. Wir führen ein paar Gespräche, bleiben unter Menschen.«

Rauschen, das Brummen von Autos, Rauschen, leises Dröhnen und noch einmal kurzes Rauschen.

»Bist du noch da?«, fragte Johanna.

»Ja, ich sitze immer noch am Schreibtisch, wo sonst?«

Pause.

»Ich bin stolz auf dich«, sagte Johanna dann. »Weil du weitermachst.«

»Das machst du doch auch«, sagte ich.

»Ja, werd ich wohl«, sagte sie plötzlich leise, fast flüs­ternd.

»Ich liebe dich. Komm gesund nach Hause.«

»Natürlich«, flüsterte Johanna, und die Worte kamen jetzt schnell, fast ohne Atempause. »Wir sehen uns spätes­tens morgen früh. Ich liebe dich.«

Rauschen. Knistern. Leises Knacken. Stille.

3 Redaktionsleiter Lassi Uutela war um die vierzig, sein Gesicht zierte ein Dreitagebart, und in seinen Augen spiegelte sich eine Gereiztheit, die er nicht verbergen konnte oder wollte. Er stand direkt vor mir, als sich die Fahrstuhltür im fünften Stock öffnete. Über seinem schwarzen Hemd trug er einen dünnen grauen Wollpullover, dazu dunkle Jeans und Turnschuhe. Er hatte die Arme verschränkt und löste sie mit betonter Anstrengung, als ich auf ihn zutrat.

Seine nicht sehr schmeichelhaften Eigenschaften – Neid auf fähigere Journalisten, die Angewohnheit, sich vor Verantwortung zu drücken, nachtragendes Verhalten und ständige Rechthaberei – waren mir durch Johanna bekannt. Ihre und Lassis Ansichten über journalistische Arbeit und das Profil der Zeitung waren in letzter Zeit immer öfter kollidiert, die Wellen der Kollisionen waren bis zu uns nach Hause geschwappt.

Wir gaben uns rasch die Hand und stellten uns einander vor, obwohl jeder wusste, wer der andere war. Für einen flüchtigen Moment kam es mir so vor, als würde ich in einem schlechten Theaterstück mitspielen. Kaum hatte Lassi die Hand frei, drehte er sich um, lief los und stieß eine Tür auf. Ich folgte ihm in einen Gang und bemerkte, wie er wütend die Beine warf, als wäre er unzufrieden mit ihrer Fortbewegungskraft. Wir kamen ans Ende des langen Flurs. Dort hatte er sein Büro, es war ein Eckzimmer von wenigen Quadratmetern Größe.

Lassi setzte sich in einen schwarzen hochlehnigen Sessel und zeigte widerwillig auf den einzigen Besucherstuhl, eine weiße Plastikschale.

»Ich dachte, Johanna hätte heute zu Hause gearbeitet«, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt habe ich gehofft, sie hier zu finden.«

Jetzt war es an Lassi, den Kopf zu schütteln. Die Bewegung war ungeduldig und knapp. »Ich habe Johanna zuletzt auf der gestrigen Redaktionssitzung gesehen, und die beginnt immer abends um sechs Uhr. Wir haben ganz normal besprochen, was anliegt, dann sind die Leute in alle Richtungen auseinandergelaufen.«

»Und ich habe gestern Abend gegen neun mit ihr telefoniert.«

»Wo war sie da?«, fragte Lassi desinteressiert.

»Unterwegs«, sagte ich, und dann nach einer kleinen Pause etwas leiser: »Ich bin leider nicht auf die Idee gekommen zu fragen, wo.«

»Mit anderen Worten, du hast seit vierundzwanzig Stunden nichts von ihr gehört?«

Ich nickte und musterte Lassi. Die zurückgelehnte, ­gelangweilte Haltung, die angestrengte Miene und die Pausen zwischen den Worten verrieten, was er wirklich dachte: Das hier ist reinste Zeitverschwendung.

»Und?«, fragte ich, als hätte ich seine Körpersprache nicht bemerkt oder zumindest nicht verstanden.

»Nun ja«, sagte er, »vielleicht ist das schon öfter vorgekommen?«

»Nein. Wieso?«

Lassi hob die Augenbrauen: »Nur so. In diesen Zeiten … passiert viel.«

»Uns nicht«, sagte ich. »Das ist eine lange Geschichte, aber uns passiert es nicht.«

»Natürlich nicht«, sagte Lassi in einem Ton, der nicht gerade durch Aufrichtigkeit überzeugte. Er machte sich auch nicht die Mühe, mir in die Augen zu sehen. »Natürlich nicht.«

»An welcher Story arbeitete sie?«, fragte ich.

Lassi antwortete nicht sofort, er wog den Stift in der Hand und vielleicht auch irgendetwas in Gedanken.

»Welche Story?«, fragte ich erneut, als ich sah, dass er nicht von allein beginnen würde.

»Das ist jetzt irgendwie blöd und außerdem auch vertraulich. Blöd ist vor allem das Thema der Story«, sagte er, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und sah mich jetzt von unten her an, als wollte er abschätzen, wie ich reagieren würde.

»Okay«, sagte ich und wartete.

»Sie schrieb über diesen Heiler.«

Kann sein, dass ich zusammenzuckte. Johanna hatte mir vom Heiler erzählt.

Sie hatte die erste E-Mail gleich nach dem Familienmord in Tapiola erhalten. Der Heiler, ein bloßes Pseu­donym, übernahm die Verantwortung für die Tat. Er erklärte in der E-Mail an Johanna, dass er im Namen der gewöhnlichen Menschen Rache übe, behauptete, die letzte Stimme der Wahrheit in einer dem Untergang geweihten Welt, der Heiler des kranken Erdballs zu sein. Deshalb habe er den Chef eines Industrieunternehmens und dessen Familie ­ermordet. Und deshalb werde er weiter all jene ermorden, die, wie er es darstellte, die zunehmenden Klimaveränderungen mitverursacht hatten.

Johanna hatte die Polizei informiert.