Aschenpummel (German Edition) - By Miedler, Nora Page 0,3

hinunter in die Liechtensteinstraße. Ich flog fast bis zum Franz-Josefs-Bahnhof. Ein paar Häuser davor setzte ich zur Landung an. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Haustür und spürte das Lächeln auf meinem Gesicht. Ein dummes, verklärtes Lächeln, das meine Nasenflügel beben, meine Wangen zittern und mich wahrscheinlich insgesamt wie ein aufgeregtes Walross aussehen ließ.

Nicht dass der Pirat und ich uns noch lange unterhalten hätten. Nur darüber, dass er die Rettung rufen wollte und ich das leicht panisch abgelehnt hatte. Aber es hatte sich etwas verändert. Ab jetzt war ich nicht mehr einfach nur die verrückte Schuhverkäuferin von nebenan, die jeden Abend ein Buch kaufte und nicht redete. Ab jetzt war ich Frau Kis, die einen dramatischen Schwächeanfall gehabt und das mysteriöse Wort »Gasgemische« gesagt hatte. Ich war die Frau, deren Namen er kannte, deren Wange er berührt hatte und zu deren Rettung er die Rettung rufen wollte. Das war Wunder genug, um den Sonntag zu überstehen. Verdammt, das war Wunder genug, um ein ganzes Leben zu überstehen!

So leise wie irgend möglich schlich ich die Wendeltreppe hoch. Ganz innen, wo die Stufen am schmalsten waren. So hatte ich es schon als Kind gemacht, vermutlich um den inneren Balanceakt, den »nach Hause kommen« für mich bedeutete, auch äußerlich nachzuvollziehen. Meine Wohnung lag im fünften Stock und der Lift, der uns seit zwanzig Jahren versprochen wurde, war noch immer nicht gebaut worden. Ich hatte es unbemerkt bis in den ersten Stock geschafft, aber das war noch kein Kunststück. Jetzt. Jetzt wurde es kritisch.

»Du bist spät, Thaddäa.«

Ich stieß einen spitzen Schrei aus. Warum erschreckte ich mich eigentlich jedes Mal? Es war doch ohnehin jeden Abend dasselbe Spiel. Ich schaffte es nie, wirklich nie, mich an Tür Nummer drei vorbeizuschleichen. Oh ja, sie war gerissen. Sie liebte es, mich erst in Sicherheit zu wiegen. Nie riss sie die Tür auf, wenn ich direkt davorstand. Manchmal ließ sie mich noch vier Schritte daran vorbeigehen, dann wieder nur einen.

»Ja, Mama«, sagte ich.

»Ja, Mama«, äffte sie mich nach. »Als ob sie dir in diesem Schuhladen das Sprechen verbieten würden. Das ist doch kein vollständiger Satz. ›Ja, Mama‹. Herrgott, und das bei meinem schwachen Herzen. Wozu die ganze Erziehung?«

»Das ist auch kein vollständiger Satz«, platzte es aus mir heraus.

Meine Mutter griff sich an die Brust. So wie ich zuvor im Libri Liberi, ich hatte eben von der Besten gelernt. Diese Geste war Mamas Paradenummer. Sie signalisierte einerseits einen drohenden Infarkt und andererseits ein durch die versagende Tochter gebrochenes Herz.

Hätte ich es nicht schon so oft gesehen, ich hätte Szenenapplaus gegeben.

»Brauchst du noch irgendwas?«, fragte ich stattdessen.

»Gesellschaft«, krächzte der sterbende Schwan. Auch das war kein vollständiger Satz.

»Mama … ich bin müde.«

Sie hatte dunkelblauen Lidschatten bis hinauf zu den Augenbrauen aufgelegt. Die Haare, die nach dem Versuch sie blond zu färben, gelb waren, fielen ihr spröde auf die Schultern herab. In ihrem weißen, bodenlangen Nachthemd sah sie aus wie Bette Davis als Baby Jane. Zum Fürchten.

»Hat meine kleine Thaddäa ihre Mama nicht mehr lieb?«

Ich warf einen besorgten Blick auf die angrenzenden Wohnungstüren. Es war acht Uhr abends, meine Mutter stand in ihren Plüschpatschen im Treppenhaus und wollte Grundsatzdiskussionen führen.

»Mama –«

»Komm mir nicht mit Mama. Seit du da oben alleine wohnst, weiß ich gar nicht mehr, was du den ganzen Tag tust.«

»Ich war arbeiten, Mama.«

»Länger als sonst.«

»Ich hab nur ein bisschen länger gebraucht, weil ich zu Fuß nach Hause gegangen bin.«

»Ha! Sie vergnügt sich, während ihre alte Mutter einsam ist und ihr weiß Gott was passieren kann. Was, wenn mich eine rumänische Einbrecherbande überfallen hätte?«

»Mama, ich hab doch gesagt, du sollst nicht immer die Jetzt lesen.«

»Die einzige Zeitung, die es in Wien gratis gibt, und meine Tochter verbietet sie mir. Und das, nachdem ich meine beiden Mädchen alleine großgezogen, keinen Schilling Unterstützung von eurem Vater erhalten habe und noch jetzt jeden Groschen, den ich besitze, in euch stecke. Da gestatte deiner Mutter doch bitte die Lektüre einer Gratiszeitung.« Gekonnter Griff an die Brust. »Mama wird noch sterben aus Gram über dich.«

»Mama –«

»Scht!«, befahl meine Mutter. »Geh! Lass mich doch allein. Ich will dich nicht mehr sehen.«

»Ja, Mama.« Ich huschte zur Wendeltreppe.

Tür Nummer drei knallte zu. Von innen hörte ich meine Mutter: »Und wehe, du bist am Sonntag nicht pünktlich!«

Mein eigenes Reich. Vier Stockwerke über meiner Mutter. Zwei Zimmer ganz für mich allein.

Ich hatte die Wohnung vor vier Jahren gemietet. Trotz des Versprechens, das ich Mama gegeben hatte. Sie nie, nie, niemals alleine zu lassen.

Einen Tag bevor ich achtzehn wurde, zog meine Schwester Tissi aus. Mama weinte vierundzwanzig Stunden durch. Ich